Kautskys Antwort auf meine Frage [1]: Ist die Internationale tot? lautete: Nein! Gewiß ist ihr Zusammenhang loser geworden. Es sind Gegensätze vorhanden, aber keine prinzipieller Art. Keine der sozialistischen Parteien der Welt will ihren Zusammenhang mit der Internationale verlieren, und keine Partei nimmt eine Haltung ein, die ihr Verbleiben in der Internationale unmöglich macht. Der Krieg hat das nationale Gefühl auch in breiten Schichten des Proletariats stark geweckt, aber in keiner einzigen sozialistischen Partei artet das nationale Selbstbewußtsein aus; nirgends, soweit ich sehen kann, nimmt es Formen von nationalem Haß und nationaler Verachtung an; nirgends zeigt sich das Verlangen nach Vergewaltigung von fremden Nationen. Einzelne Parteigenossen mögen sich vergessen und unter dem Einfluß des furchtbaren Krieges die Grenzen überschritten haben, die durch die Internationale gezogen worden sind; aber wir haben alle Ursache anzunehmen, daß die sozialistischen Parteien überall mit solchen Entgleisungen nicht einverstanden sind. Am meisten scheint die Internationale tat durch die Zustimmung zu den Kriegskrediten gefährdet zu sein. Ich kann nicht untersuchen, ob diese Zustimmung überall angebracht und durch die Umstände gerechtfertigt war. Die Diskussion darüber kann erst nach dem Kriege in voller Freiheit und mit voller Sachkenntnis geführt werden; soviel aber kann man bereits sagen, daß die Zustimmung zu den Kriegskrediten nicht aus Gedankengängen heraus erfolgte, die mit den Grundsätzen der Internationale unvereinbar sind. Überall galt diese Zustimmung einzig der Abwehr und nirgends der Eroberung. Wir können nicht wissen, was der Krieg noch bringt und wieweit er die nationalen Gegensätze noch verschärft; aber wir haben alle Ursache anzunehmen, daß der Höhepunkt der nationalistischen Aufregung überschritten ist. Die Friedenswünsche und die Friedenspropaganda werden die internationalen Beziehungen wieder verstärken, und die sozialistischen Parteien der Internationale werden sich bemühen, gemeinschaftlich einen für alle Nationen heilsamen Frieden herbeizuführen, so daß nach dem Friedensschluß die Internationale wieder kräftig und geschlossen dasteht.
Quellen :
— „Vorwärts“ Nr. 306 vom 8. November 1914.
— Dokumente und Materialen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 1, Juli 1914 —Oktober 1917, Berlin, Dietz Verlag, 1958, S. 53 ;
— Transkription und HTML-Markierung: Smolny, 2015.
[1] Kautsky war von dem Leiter der holländischen Sozialdemokratie, Troelstra, nach seiner Auffassung über den Fortbestand der II. Internationale befragt worden. Troelstras Bericht über diese Unterredung wurde zuerst im Amsterdamer sozialdemokratischen Parteiblatt „Het Volk“ veröffentlicht.